Die Marktöffnung ist dysfunktional

Mit dem geplanten Stromabkommen müsste die Schweiz ihren Strommarkt komplett öffnen. Das heisst das heutige Schweizer System der geschützten Grundversorgung müsste zerschlagen werden, übrig bliebe nur noch ein Rumpfmodell. Für die Privathaushalte würde das nichts Gutes bedeuten, ebensowenig für die Energiewende.

Strom ist banal, aber absolut unabdingbar

Elektrischer Strom ist ein genauso banales wie vitales Produkt. Einerseits ist er völlig unsichtbar, geruchsneutral und uniform, und andererseits es er für fast alle Aspekte des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens die unabdingbare Grundzutat. Entsprechend ist auch für die Privathaushalte alles entscheidend, dass der Strom immer zuverlässig und zu stabilen und fairen Preisen aus der Steckdose kommt. Im Unterschied zu individuellen Präferenzen für Chips- oder Guetzlimarken wird es aber den meisten Leuten einerlei sein, welche Farbe das Logo ihr Energieanbieters hat oder mit welchen Modalitäten man sich auf dessen Kundenportal einloggen kann. Entsprechend wenig ist aus KonsumentInnensicht von der freien Wahl des Stromanbieters zu erwarten: Strom bleibt Strom und die neue „customer experience“ beim Wechsel des Stromanbieters damit äusserst bescheiden. Wirklich entscheidend bleibt für alle versorgten Haushalte und Unternehmen nur die Zuverlässigkeit der Stromversorgung und die Höhe des Strompreises. Diese beiden Faktoren lassen sich aber mittel- und langfristig nicht über individuelle Konsumentscheidungen beeinflussen, sondern sie ergeben sich integral aus der Architektur der Stromversorgung. Der schnelle Ausbau der Erneuerbaren und damit die Energiewende, die Netzstabilität und der nötige Ausbau der Stromnetze, die Digitalisierung des Vertriebs und damit die zeitabhängige Optimierung der Nachfrage: Das alles sind die Faktoren, welche mittel- und langfristig über die Höhe der Strompreise und die Sicherheit der Versorgung der Schweizer Bevölkerung entscheiden – und nicht die Segnungen der freien Wahl des Stromanbieters.

Strompreishammer über Nacht: In der Schweiz ausgeblieben

Wenn die geplante freie Wahl des Stromanbieters für KleinkundInnen nur eine Spielerei ohne viel Mehrwert wäre, liesse sich damit leben. Doch ist die Marktöffnung sowohl aus KonsumentInnen- als auch aus ProduzentInnensicht mit erheblichen Nachteilen und Gefahren verbunden. Zuerst zur Verbrauchsseite: Dort wo es die freie Wahl seit Jahren gibt, etwa in Deutschland oder England, sind die Haushalte den Unabwägbarkeiten des Marktes voll ausgesetzt. Brachial zu spüren bekommen haben sie dies während der Strompreiskrise im Zuge der russischen Invasion in die Ukraine. In gewissen Ländern haben sich die durchschnittlichen Stromtarife für die Haushalte quasi über Nacht fast verdreifacht. Während der Preis für die Kilowattstunde im März 2021 in England 10.5 Cent betrug, waren es im März 2022 durchschnittlich 28.1 Cent, mit noch viel extremeren Beispielen im Einzelfall. Dieser Preisschock hat europaweit Millionen von Haushalten in die Armut getrieben, worauf sozialpolitische Stützungsmassnahmen wie etwa die bekannten „Strompreisdeckel“ beschlossen werden mussten. In der Schweizer Grundversorgung blieben die Preise jedoch zunächst stabil und wurden erst mit den nur einmal jährlich zulässigen Tarifänderungen auf 2023 und 2024 angehoben. Die Preisaufschläge waren zwar auch in der Schweiz substanziell, das Ausmass war aber mit einer über zwei Jahren verteilten und geglätteten Zunahme von 7.9 Rp./kWh auf 15.6 Rp./kWh viel geringer und liess sich zudem für die EndkundInnen lange im Voraus absehen.

Frust der KleinkundInnen in der EU

Die KleinkundInnen haben aber im geöffneten europäischen Markt nicht nur mit hohen und stark fluktuierenden Strompreisen zu kämpfen. Nicht selten sind sie auch damit konfrontiert, dass der von ihnen gewählte Anbieter plötzlich Konkurs geht. Strom ist im geöffneten Markt ein Spekulationsobjekt und entsprechend tummeln sich dort unzählige Vermarktungs- und Handelsfirmen, die mit aggressiven Strategien um KundInnen buhlen, ohne selbst eine einzige Kilowattstunde Strom zu produzieren. Verspekulieren sie sich, stehen die betroffenen Haushalte plötzlich ohne Anbieter da. Um also Abzocke, Pleiten und Stromabschaltungen zu verhindern, musste in der EU ein kompliziertes und administrativ aufwändiges Regelwerk zur Gewährleistung des KonsumentInnenschutzes aufgebaut werden. Ein solches Regelwerk soll mit der Marktöffnung auch in der Schweiz eingeführt werden. Eine Absurdität: Anstatt von Beginn an zu versuchen, die mit der Marktöffnung verbundenen Probleme aufwändig wegzuregulieren, könnte man auch aus den schlechten Erfahrungen lernen und auf diese Öffnung verzichten.

Energiewende droht ausgebremst zu werden

Was die Produktionsseite betrifft, ist die entscheidende Frage unbestrittenermassen jene, ob die Strommarktöffnung die Energiewende beschleunigt – also den nötigen massiven und schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien befeuert – oder nicht eher auszubremsen droht. Wieso vieles für Letzteres spricht: Wer investiert, braucht Planungssicherheit. Auf die Elektrizitätsinfrastruktur bezogen heisst dies, dass für die Energieversorgungsunternehmen über viele Jahre hinweg einigermassen absehbar sein muss, welche Strommenge zu welchem Preis abgesetzt werden kann. Die Marktöffnung bewirkt aber das Gegenteil: Die heutigen Verteilnetzbetreiber werden dem Wettbewerb ausgesetzt und werden sich dort beweisen müssen. Gleichzeitig wären sie per Gesetz weiterhin zur Bereitstellung der optionalen Restgrundversorgung verpflichtet, wüssten aber heute nicht, wie viele KundInnen dort morgen wie viel Strom beziehen möchten, und zu welchem Preis. Klar ist nur, dass die in der Grundversorgung und darüber hinaus belieferte Anzahl KundInnen neu viel stärker schwanken würde. Und dies immer schneller, denn gemäss ausgehandeltem Abkommen soll der Stromanbieter mittelfristig nicht wie heute im Jahresrhythmus, sondern bald innerhalb von nur 24 Stunden gewechselt werden können! Was ebenfalls stark schwanken wird, ist der Strompreis, denn die Energieunternehmen müssen den nicht selbst produzierten Strom natürlich zu Marktpreisen einkaufen. Man würde den Verteilnetzbetreibern also just zu dem Zeitpunkt, wo von ihnen ein maximales Engagement für Investitionen in die erneuerbare Energiezukunft gefordert wird, den Teppich unter den Füssen wegziehen bzw. die Planungs- und Investitionssicherheit erheblich schwächen. Die Marktöffnung droht damit klar die Energiewende auszubremsen. Entsprechend äusserte sich z.B. der CEO von Swisspower, dem Verband der Stadtwerke, in der NZZ folgendermassen zum Stromabkommen: „Ich befürchte aber, dass die damit verbundene vollständige Liberalisierung des Strommarkts den Ausbau der Produktion erneuerbaren Stroms in unserem Land eher nach hinten verschiebt.“ Dies begründet er mit der investitionshemmenden Wirkung der höheren Preisvolatilität im geöffneten Strommarkt.

EWZ vs. EKZ: Ein vielsagendes Anschauungsbeispiel

Zum Schluss ein Praxisbeispiel aus Zürich: Die EWZ beliefert die Stadtzürcher Bevölkerung zu 100 Prozent mit inländischem erneuerbarem Strom, welcher grösstenteils aus eigenen Wasserkraftwerken in den Bündner Alpen sowie aus Beteiligungen an Partnerwerken stammt. Dieser Strom muss heute per Gesetz zu Produktionskosten an KleinkundInnen abgegeben werden, was die StadtzürcherInnen im laufenden Jahr 7.7 Rappen pro Kilowattstunde kostet. Damit liegt der Energietarif in der Stadt Zürich ganze 6 Rappen unter dem Schweizer Medianwert (13.7 Rp./kWh). Jenseits der Stadtgrenze sind in den meisten Zürcher Gemeinden die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) der lokale Energieversorger. Die EKZ verfügt zwar auch über eine substanzielle Eigenproduktion, kann damit jedoch nur gerade 31 Prozent des Strombedarfs abdecken (Geschäftsjahr 2023/2024). Der restliche Strom muss jeweils hinzugekauft werden, was sich in den letzten Jahren hoher Marktpreise stark auf den Endpreis für die KleinkundInnen ausgewirkt hat: Im aktuellen Tarifjahr beläuft sich der Strompreis (netto) der EKZ auf 15.7 Rp./kWh und beträgt damit mehr als das Doppelte des EWZ-Tarifs. Fazit: Die EKZ-KundInnen waren indirekt dem Markt – und damit den stark fluktuierenden und in den letzten Jahren grundsätzlich sehr hohen Strompreisen – ausgesetzt und haben dafür wortwörtlich einen hohen Preis bezahlt. Tiefere Preise und eine sichere Versorgung gibt es hingegen nur mit einer möglichst gut ausgebauten inländischen Produktion durch erneuerbare Energien, wie das Beispiel der EWZ eindrücklich zeigt.