Stabile, funktionierende Stromversorgung gefährdet

Die gute und geregelte Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU ist angesichts der undemokratischen Grossmachtpolitik der Regierenden im Westen wie im Osten noch wichtiger. Der SGB befürwortet ein Abkommen mit der EU, wenn der Lohnschutz und der Service public gesichert sind. Die vom Bundesrat im März beschlossenen Massnahmen sichern den Lohnschutz ab. Beim Strom hingegen wird der Service public durch das Stromabkommen gefährdet. Der SGB lehnt dieses spezifische Abkommen daher ab. Die heute vom Bundesrat vorgestellte «Schutzklausel» ist im Grunde ein Irrweg. Bundesrat und Parlament könnten, wenn sie wollten, die Arbeitslosigkeit schon heute wirksam bekämpfen, mit Massnahmen, die dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) entsprechen. Der Umweg über das Schiedsgericht bringt nichts, sondern kostet nur wertvolle Zeit.

Stabile, nicht gewinnorientierte Stromversorgung gefährdet

Die wichtige Anbindung an das europäische Hochspannungsnetz ist bereits durch Verträge gewährleistet. Ein zusätzliches Abkommen ist für die Versorgung in der Schweiz und in den Nachbarländern nicht zwingend. Zumal beide Seiten eine enge Kooperation im Hochspannungsnetz brauchen. Mit dem Abkommen muss die Schweiz die Stromversorgung liberalisieren. Das ist eine Gefahr für die Preisstabilität, die Versorgungssicherheit und den ökologischen Umbau.

Heute werden die Schweizer Haushalte und KMU in der Grundversorgung mit Strom zu fairen und stabilen Preisen versorgt. Mittelfristig spüren sie zwar auch Strompreisschwankungen, aber sie dürfen per Gesetz nicht abgezockt werden. Vor allem muss  der hier produzierte Strom zu Produktionskosten abgegeben werden und darf sich nicht an Marktpreisen orientieren, die sehr viel höher sein können. Dafür verantwortlich, dass das so funktioniert, sind die integrierten Energieversorger und Stadtwerke. Damit diese planen und optimieren können, müssen sie Verteilung, Produktion, Nachfrage und Angebot aus einem Guss zusammenbringen können.

Mit dem Stromabkommen würde die integrierte Grundversorgung über die Marktöffnung de facto abgeschafft. Anstelle der kostenbasierten Preise der öffentlichen, nicht gewinnorientierten Versorger würden Marktpreise eingeführt. Die grössten integrierten Versorger müssten gemäss EU-Recht aufgespalten werden. Die mit dem Stromgesetz ebenfalls verschärften Vorgaben für den Anteil erneuerbarer Energien im Inland wären diskriminierend“ und müssten aufgehoben werden. Was das Abkommen zudem für die zentrale Schweizer Wasserkraft und die anstehenden Neuvergaben der Konzessionen bedeutet, ist im Konkreten noch unklar; eine Analyse der Vertragstexte wird dies zeigen müssen.

«Schutzklausel» bringt nichts, Arbeitslosigkeit können Bundesrat und Parlament schon heute bekämpfen

Bundesrat und Parlament können Arbeitslosigkeit und andere soziale Probleme schon heute mit wirksamen, FZA-konformen Massnahmen bekämpfen, wenn sie wollen. Der in der Schutzklausel vorgesehene Umweg über das Schiedsgericht wird nichts bringen, aber wertvolle Zeit kosten. Der SGB begrüsst deshalb, dass der Bundesrat heute entschieden hat, vor der Anrufung der Schutzklausel innenpolitische, FZA-konforme Massnahmen (Konjunkturpakete, bessere Vermittlung und Ausbildung von Arbeitslosen usw.) zu prüfen.

Mit der Schutzklausel orientiert sich der Bund am früheren Kontingentssystem, das er im Jahr 2002 beerdigt hat, weil es nicht funktionierte und viele Probleme mit sich brachte. Es galt als bürokratisch, innovationshemmend und es förderte prekäre Arbeit. Die Einwanderung in die Schweiz folgt vor allem der Konjunktur. Wenn die Wirtschaft wächst und die Arbeitslosigkeit tief ist, rekrutieren die Arbeitgeber vermehrt Personal aus dem Ausland. In Rezessionen geht die Einwanderung zurück. Damit die Schweiz die Schutzklausel anrufen kann, muss das Land ernsthafte wirtschaftliche oder soziale Probleme haben. Das sind Phasen, in denen die Einwanderung  ohnehin konjunkturbedingt zurückgeht.

Die früheren Erfahrungen mit Kontingenten haben gezeigt, dass die Firmen diesen ausweichen. Wenn die Daueraufenthalte begrenzt sind, stellen sie eher Kurzaufenthalter:innen oder Grenzgänger:innen ein. Oder sie weichen auf Temporärbüros aus, die ausländische Arbeitskräfte für 90 Tage an die Firmen ausleihen. Diese 90-Tage-Aufenthalte brauchen keine Bewilligung, sondern nur eine Meldung. Ob sie überhaupt beschränkt werden können, ist fraglich.

Bis die Schutzklausel greift, vergeht viel Zeit. Zuerst müsste der Bundesrat dem gemischten Ausschuss einen Antrag stellen. Dieser hat 60 Tage Zeit, dem Antrag zuzustimmen. Man kann davon ausgehen, dass dies meistens nicht der Fall sein wird, weil die EU kein Interesse daran hat. Dann geht der Antrag vor Schiedsgericht, das wieder ein halbes Jahr Zeit hat. Die Hürden vor Schiedsgericht sind relativ hoch. Die Schweiz müsste beweisen, dass sie schwerwiegende Probleme hat. Sollte das Schiedsgericht zustimmen, kann die Schweiz an die Umsetzung gehen. Je nachdem braucht es dazu noch einen referendumsfähigen Bundesbeschluss.

Das alles ginge viel einfacher: Wenn die Schweiz in einer Rezession eine hohe Arbeitslosigkeit hat, geht die Einwanderung sowieso zurück und ist kein Thema. Dann braucht es Konjunkturprogramme zur Stimulierung des Konsums oder des Baus, damit das Land möglichst schnell aus der Rezession herauskommt. Auch in einer Hochkonjunktur ist es besser, die Wirtschaft direkt abzukühlen. So könnten beispielsweise öffentliche Aufträge aufgeschoben werden, oder die Nationalbank könnte die Zinsen erhöhen. Die Schutzklausel wird hingegen kein Problem lösen, sondern Probleme allenfalls noch verstärken. Nämlich dann, wenn die Schutzklausel ein rasches konjunkturpolitisches Handeln verhindert.